Konkretisierung der Pflichten von Straßenbaulastträgern hinsichtlich Barrierefreiheit und Verkehrssicherungspflicht
OLG Hamm 23.7.2014, 11 U 107/13
Aus der in § 9 Abs. 2 S. 2 StrWG NRW geregelten Verpflichtung des Straßenbaulastträgers, die Belange von Menschen mit Behinderung und anderer Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung mit dem Ziel zu berücksichtigen, möglichst weitgehende Barrierefreiheit zu erreichen, folgt nicht, dass jede Straße, unabhängig von ihrer jeweiligen Bedeutung auch für behinderte Personen sicher zu befahren sein muss. Dermaßen weitreichende Sicherungsanforderungen können die Straßenbaulastträger bereits aus finanziellen Gründen nicht erfüllen.
Der Sachverhalt:
Der aufgrund einer intellektuellen Einschränkung unter Betreuung stehende Kläger war im August 2012 nachts mit seinem Fahrrad auf der Oppelner Straße in Lippstadt unterwegs. An einer ca. 2 m breiten Stelle, an der der Asphalt im Randbereich zwei bis zu 5 cm tiefe Schlaglöcher und zudem Netzrisse aufwies, stürzte er und zog sich eine Schienbeinverletzung zu, die aufgrund einer späteren Wundheilungsstörung mit einer Hauttransplantation behandelt werden musste. Später behauptete der Kläger, er sei mit seinem Fahrrad in ein Schlagloch geraten.
Von der Stadt Lippstadt als dem für die Oppelner Straße zuständigen Straßenbaulastträger verlangte der Kläger unter dem Gesichtspunkt einer Verkehrssicherungspflichtverletzung Schadensersatz, insbesondere ein Schmerzensgeld i.H.v. 2000 €. Das LG sprach dem Kläger unter Berücksichtigung eines 50%igen Mitverschuldens 1000 € Schmerzensgeld zu. Es hatte eine Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten angenommen, weil die Oppelner Straße im Unfallbereich für behinderte Fahrradfahrer nicht sicher zu befahren gewesen sei. Auf die Berufung der Beklagten hob das OLG die Entscheidung auf und wies die Klage insgesamt ab.
Die Gründe:
Dem Kläger stand gegen die Beklagte kein Schmerzensgeldanspruch aus § 839 BGB i.V.m. Art 34 GG und §§ 9, 9 a, 47 StrWG NRW, 253 Abs. 2 BGB als der insoweit einzig ernsthaft in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage zu.
Die in § 9 Abs. 2 S. 2 StrWG NRW geregelte Verpflichtung des Straßenbaulastträgers, die Belange von Menschen mit Behinderung und anderer Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung mit dem Ziel möglichst weitgehender Barrierefreiheit zu berücksichtigen, stellt eine Planungsvorgabe dar. Aus ihr folgt hingegen nicht die Verpflichtung, dass jede Straße, unabhängig von ihrer jeweiligen Bedeutung, auch für behinderte Personen sicher zu befahren sein muss.
Dermaßen weitreichende Sicherungsanforderungen können die Straßenbaulastträger bereits aus finanziellen Gründen nicht erfüllen. Der Umfang ihrer Verkehrssicherungspflicht bestimmt sich vielmehr – auch vor dem Hintergrund der genannten Regelung – danach, was ein durchschnittlicher Benutzer der konkreten Verkehrsfläche vernünftiger Weise an Sicherheit erwarten darf.
Infolgedessen fiel der Beklagten im vorliegenden Fall keine Verkehrssicherungspflichtverletzung zur Last. Die Oppelner Straße wies im Unfallbereich keine für den Fahrradverkehr nicht beherrschbaren Gefahrenquellen auf. Nach ihrer konkreten Verkehrsbedeutung war auf einen durchschnittlichen Radfahrer abzustellen, der eine Straße unter Beachtung der gebotenen Eigensorgfalt befährt. Für einen solchen sind die Schadstellen der Oppelner Straße ohne weiteres zu bewältigen. Der überwiegende Teil der Fahrbahndecke befand sich im Unfallzeitpunkt in einem für einen umsichtigen Radfahrer befahrbaren Zustand .
Quelle: OLG Hamm PM v. 22.8.2014